Die Königs vom Kiez

Das Schmidt Theater bietet endlich das passende Pendant zu dem Erfolgmusical „Heiße Ecke“, das gleich nebenan im „Schmidts Tivoli“ seit zehn Jahren die Zuschauer begeistert. Während „Heiße Ecke“ das Straßenleben auf dem Hamburger Kiez zeigt und dabei viele Klischees bedient, gewährt das neue Musical im Schmidt Theater dem Publikum einen humorvollen Einblick in die chaotischen Wohnumstände einer verschrobenen Kiezfamilie. Das Familienoberhaupt ist ein alleinerziehender Arbeitsloser mit einem ausgeprägten Alkoholproblem, das er selbst allerdings eher als Lebensphilosophie auffasst. Seine Kinder, die mit ihm denselben Haushalt teilen müssen, stellt die Lebensweise des „alten Herren“ hingegen vor ernsthafte Probleme. Nicht nur, dass er ihnen ein schlechtes Vorbild ist – nein - der allgemein nur als „Käpt’n“ bekannte und wenig ambitionierte Lebenskünstler verprasst auf seinen ausgiebigen Zechtouren auch noch sämtliches Geld, das er in die Hände bekommt. Marie, die älteste und sehr beflissene Tochter, ist fortwährend bemüht, all’ der widrigen Umstände Herr zu werden. Als ihr dann eine Mahnung wegen Mietrückständen in die Hände fällt und der gesamten Familie eine Räumungsklage droht, ist das Maß voll und die Not groß. Sie und ihre Geschwister müssen innerhalb kürzester Zeit so viel Geld verdienen wie sie nur können, um nicht das Dach über dem Kopf zu verlieren. Der Kreativität sind dabei kaum Grenzen gesetzt, wie sich bei den so unterschiedlichen Charakteren schnell herausstellt. Die frühreife und längst noch nicht volljährige Pamela ist schon Mutter und lädt der Reihe nach die potentiellen Erzeuger vor, um sie alle nacheinander in die „Vaterpflicht“ zu nehmen. Die Zwillingsbrüder Björn und Benny setzen einerseits auf die Verkaufserlöse selbst erzeugter Rauschpflanzen wie anderseits auf einen Maskottchenjob bei einem kiezfremden Fußballverein. Zu allem Überfluss muss die bettlägerige Oma versorgt werden und stellt die mannstolle Witwe Berta aus einer der oberen Wohnungen dem „Käpt’n“ immer penetranter nach. Schließlich hat der unnachgiebige Verehrer der fleißigen Marie ein fatales Geheimnis, das der gesamten Familie in ihrer schwierigen Situation zum Verhängnis zu werden droht.

Handfeste Charakter, wie sie teilweise klischeehafter und liebevoll überzeichneter kaum sein könnten, bilden die Grundlage und das Erfolgsrezept für „Die Königs vom Kiez“. In der einfachen Kiez-Wohnung tobt sozusagen das pralle Leben. Typische Gestalten aus dem Milieu und staksige Persönlichkeiten des soliden Bürgertums geben sich die Klinke in die Hand und sorgen für ständige Turbulenzen. So prallen kontrastreiche Welten aufeinander.
Die Wohnung im Untergeschoss ist längst ein Sinnbild für das „Souterrain des Lebens“, in dem es kaum Lichtblicke gibt, dafür aber freie Sicht auf die ungeschminkte und oft harte Lebenswirklichkeit. Mirko Bott und Heiko Wohlgemuth mischen diese Tristesse aber nach Kräften mit Humor auf, dem sich wohl kaum ein Lachmuskel entziehen kann. Das Autorenteam hat eine wunderbare Geschichte ersonnen, bei der Fiktion und Wirklichkeit so gekonnt miteinander verwoben werden, dass die Grenzen verschwimmen.
In dem Stück schimmert hinter jedem Klischee ein bisschen Alltagsrealität hindurch, und in der kunstvollen Wirklichkeitsillustration steckt die prägende Handschrift passionierter Karikaturisten. So ist es ein grandioser Einfall, den Entertainer Jörg Knör bekannte Showgrößen parodieren zu lassen, deren „Stimmen“ aus dem Off eingespielt werden und mit „deren“ Kommentaren sich der „Käpt’n“ konfrontiert wähnt. Da wird aus dem Hinterhalt kräftig abgelästert und gleichzeitig den Castingshows mit feinwitziger Ironie ein Seitenhieb verpasst. Das ist einer der Höhepunkte des zweiten Aktes. Im Grunde ist aber das gesamte Stück eine Anreihung von dramaturgischen Höhepunkten. Die Handlung ist einfach gehalten, wird aber grandios ausgestaltet, da viele schräge Figuren in skurrilen Situationen aufeinandertreffen und auf diese Weise den Humor zur vollsten Entfaltung bringen.
Hinter den facettenreichen Figuren verbirgt sich ein erstklassiges Ensemble, das in der Inszenierung von Corny Littmann so richtig aufblüht. Carolin Spieß war zuvor schon bei dem Musical „Heiße Ecke“ kaum wegzudenken, entfaltete ihren spielerischen Humor dann aber auch bei anderen Hausproduktionen wie „Villa Sonnenschein“. Als Berta Possehl zeigt sie sich wieder einmal in komödiantischer Hochform, spielt im Kontrast dazu aber auch die gestrenge Notarin Frau Dr. Winkelmüller. Die Zwillinge Björn und Benny spielt Stefan Stara mit verblüffender Vielseitigkeit und enormer Dynamik. Lisa Huk begeistert schauspielerisch wie stimmlich als frühreife Göre Pamela, die ihre verflossenen Liebschaften erst einlullt und dann abkassiert. Stefan Rüh macht als Maries Verehrer Alex und Kneipenwirt auf sich aufmerksam. Er ist sehr präsent und im Duett mit Nadine Schreier als Marie bei dem Lied „Wenn es jetzt dunkel wär“ auch gesanglich überzeugend. Tim Koller spielt erfreulich komödiantisch eine ganze Reihe von Figuren, vom Inder Ranjid angefangen, über den lasterhaften und zügellosen Priester und den wortkargen Dealer bis hin zur schrillen Lottofee. Außerdem spielt er noch den Bofrostmann, der genau wie der Inder Ranjid als angeblicher Erzeuger von Pamelas Baby zur Kasse gebeten wird. Die Rollenwechsel gelingen ihm erstaunlich fließend und überzeugend. Götz Fuhrmann ist die ideale Besetzung für die Rolle des Käpt’n. Er füllt seine Rolle mit großem Einsatz und spielerischem Engagement aus. Das ist man von ihm allerdings auch schon durch seine Rollen beim Musical „Heiße Ecke“ und der Titelrolle von „Räuber Hotzenplotz“ gewohnt. Eine Neuentdeckung für das Schmidt Theater ist Nadine Schreier. Sie brilliert sowohl schauspielerisch wie gesanglich. Egal, ob bei den Sprechpassagen oder beim Singen, die Stimme der Musicaldarstellerin - die auch als Studiomusikerin und Synchronsprecherin tätig ist - perlt geradezu im Ohr. Ausdrucksstark ist aber auch ihre Mimik, und beim Tanzen macht die Protagonistin ebenfalls eine gute Figur. Für die richtigen Töne und Texte bei der Musik sorgt auch bei dieser Produktion wieder das Erfolgsgespann Martin Lingnau und Heiko Wohlgemuth. Beide zaubern den Darstellern Songs auf die Lippen, die dem Musical erst das geben, was es außer einer guten Story und einem tollen Ensemble noch braucht. Schon der erste Song „Guten Morgen“ springt sozusagen vom Takt und dem Text her gleich in die Handlung und bleibt ihm Gehör haften. So ist der Einstieg aus musikalischer Sicht schon einmal gelungen. Mit „Da draußen ist ein Leben“ wird die Sehnsucht thematisiert und der Traum von einer noch immer unerfüllten Liebe. Bereits bei diesem zweiten Song wird wieder einmal die Vielfalt von Martin Lingnaus Repertoire deutlich, aber auch das Geschick von Heiko Wohlgemuth, die Melodien treffend mit Worten zu schmücken. Bei Bertas „La Paloma“ sind die Strophen sehr humorvoll, wenn die Witwe beispielsweise singend deutlich macht, dass eine alte Scheune hell und heiß brennt. „Der Kiez ist schön“ ist ein weiteres heiteres Lied, das man dank seiner beschwingten Takte am liebsten gleich mitsingen würde. Das gilt auch für „Alles isse Karma“, bei dem es sinngemäß heißt: „Heute siehst du kleines Stück, morgen Panorama“. Was die Melodie des Refrains betrifft, so ist sie ähnlich eingängig wie der alte Schlager „Meine Art, Liebe zu zeigen, das ist ganz einfach schweigen“. Die Choreografien von Benjamin Zobrys setzten die Songs auf optische Weise gut in Szene. Es gibt vor allem einen sehr gelungenen Streetdance, mit dem der Traum des Käpt’n von der Teilnahme an einer Castingshow visuell schwungvoll inszeniert wird und den lustigen Tanz zum Song von Ranjid – sozusagen als beschwingte Schlussnummer. Die vielen kleinen tänzerischen Finessen und die Übersetzung musikalischer Stilrichtungen und Thematiken in synchrone Tanzbewegung fallen bei dieser Produktion als Aushängeschild von Benjamin Zobrys als Choreograf besonders auf. Musical-Zeitung.de meint: „Das Stück „Die Königs vom Kiez“ ist königlich gute Unterhaltung und das Glanzstück unter Hamburgs Musicals.“